Emetophobe Symptomatik bei Sozialer Phobie
Schwierigkeiten beim Essen und Trinken in der Öffentlichkeit für Menschen mit Sozialer Phobie
Autoren: Autoren: J.P. Wolters u. Marita Krämer, Fach-Autoren zu Themen Sozialer Phobie, Juli 2016
Dieser Beitrag befasst sich dem Symptom Angst vor Übelkeit/Erbrechen (sog. Emetophobie) speziell bei Essen in der Öffentlichkeit und ausschließlich bei Menschen, die unter einer Sozialen Phobie leiden. Einbezogen werden eine aktuelle Internet-Befragung, an der sich 150 Personen mit Sozialen Ängsten beteiligten, sowie Betroffenen-Interviews.
I. Die Teilnahme an öffentlichem und privat-familiärem Essen
Essen ist Normalität, auch schlichte Lebensnotwendigkeit. Daneben bedeutet es für die meisten Menschen auch Genuss, Wohlbefinden und Lebensqualität. Der Stellenwert des Essens lässt sich nicht ohne gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge betrachten, denn Essen in Gesellschaft ist verbunden mit Geselligkeit und Lebensfreude. Familienfeiern sind nicht ohne damit verbundenes Festessen zu denken, öffentliche Feste und Feiern ohne dazugehöriges Essen und Trinken fast unvorstellbar.
Soziale Angststörung hat vielerlei Ausprägungen. Wenn sie mit Problemen mit dem Essen oder Trinken einhergeht, treten in öffentlichen oder familiären Essenssituationen oft spezifische Symptome auf: Zittern der Hand, z.B. beim Halten von Besteck, Globusgefühl, das Gefühl, beim Essen oder Trinken beobachtet zu sein oder sich ungeschickt zu benehmen, nicht aufstehen zu können, unangenehme Sitznähe u. Ä.
Aus diesen Gründen verbinden Betroffene mit solchen Ess-Situationen weder Genuss noch Geselligkeit oder Lebensfreude. Stattdessen vermeiden sie aus Angst Essen in Gesellschaft oder im familiären Umfeld, um nicht mit der beschrieben Symptomatik konfrontiert zu werden. Dieses Vermeidungs-verhalten führt im schlimmsten Fall zum Einschränken sozialer Kontakte bis auf ein Minimum, zu erheblichen Schwierigkeiten im Privat- und Berufsleben, zu Rückzug und Isolation.
II. Die Angst vor Übelkeit/Erbrechen (Ü/E)
im Weiteren abgekürzt als „Angst vor Ü/E“, um Betroffenen ein Einlassen auf diesen Text zu erleichtern.
Eines der Symptome, welche auf der Basis Sozialer Phobie auftreten können, ist die Angst, dass einem in Gesellschaft anderer Menschen übel werden könnte, bis zur Sorge zu erbrechen.
Diese Angst bezieht sich vorrangig auf Essenssituationen in der Öffentlichkeit. Ist dieses Symptom stärker ausgeprägt, kann es aber auch unabhängig von einer Nahrungsaufnahme auftreten.
Im Unterschied zur emetophoben Symptomatik bei Agoraphobie bedarf es bei der Symptomatik bei Sozialer Phobie nicht nur des öffentlichen Raums, sondern v.a. der Gesellschaft anderer Menschen.
In einer Internetbefragung von Sozialphobie-Betroffenen gaben 34% der Frauen und 24% der Männer an, unter Angst vor Ü/E in der Öffentlichkeit zu leiden.
Befragt, wie oft das befürchtete Ereignis „Ü/E in der Öffentlichkeit“ in den letzten 10 Jahren tatsächlich aufgetreten ist, gaben Betroffene für Übelkeit eine tatsächliche Eintrittswahrscheinlichkeit von seltener als 1: 100 an, für Erbrechen war die Wahrscheinlichkeit noch geringer.
Die Betroffenen hatten also eine Vielzahl von Situationen erlebt, in denen die befürchteten Symptome nicht aufgetreten waren und dennoch bewirkte dies keine hinreichende „Entlassung“ aus der Angst.
Dass spricht für die „Hartnäckigkeit“ dieses Symptoms.
Angst löst im Körper einen vegetativen Erregungszustand aus, der verschiedene körperliche Symptome zur Folge haben kann, wie z.B. Schwitzen, Zittern oder auch Übelkeit.
Hinzu kommt eine spezielle sozialphobische Eigendynamik: Betroffene fürchten ganz besonders, aufgrund ihrer vegetativen Symptome sich mit ihrer Angst zu „verraten“ und dadurch erst recht negativ bewertet zu werden bzw. sich selbst noch weiter abzuwerten. Die Vorstellung, die Kontrolle über ihre Symptome zu verlieren, bewirkt eine eskalierende Zuspitzung ihrer Ängste.
Auf diese Weise können mit der Zeit psychosomatisch ausgelöste Magenprobleme entstehen, als körperliche Folge der angstbedingten Fokussierung auf das Thema Ü/E. Der jetzt auch körperlich „verquere“ Magen ist dann Ursache weiterer Angst vor Ü/E, es bilden sich also negative Kreisläufe aus Angst und Magenbelastung.
Als Folge davon kann es durchaus sein, das Betroffene am „gedeckten Tisch“ oder auch schon im Vorfeld an Unwohlsein oder leichter Übelkeit de facto leiden.
Jedoch gibt es auch den umgekehrten Fall einer somato-psychischen Rückkopplung: Bei lang bestehendem psychosomatischen Regelkreis kann auch eine aufgrund unverträglichen Essens ausgelöste Magen-Darm-Verstimmung und körperliche Übelkeit dann gleichzeitig zu erheblichen Angst-„Anflutungen“ bei Betroffenen führen-durchaus auch, wenn sie alleine zu Hause sind.
Ausgelöst werden kann Angst vor Ü/E auch durch spezielle, besonders traumatisierende oder peinliche Erlebnisse. Aus der Umfrage geben über 50% ein frühes negativ prägendes Ereignis mit Ü/E an als (Mit-)Ursache der emetophoben Symptomatik.
Letztlich scheint aber dieses Ereignis alleine nicht zwingend die Symptomfixierung begründen zu können.
Gefragt danach, welche Emotionen vorrangig mit der Angst vor Ü/E verbunden sind, gaben zwei Drittel Kontrollverlust und Ohnmachtsgefühle an, gleichrangig mit Scham, die eine „Kardinal-Empfindung“ bei Sozialer Phobie ist. Hingegen stehen Ekel-Gefühle nur bei einem Fünftel im Vordergrund.
Der Symptomatik Ü/E kommt auch ein bildhafter Ausdruckscharakter zu:
Bei akutem Stress ist vielen Menschen nicht nach Essen. Begleitend ist die gesamte Situation angstbelastet und das innere Gefühl auf Abgrenzung, nicht auf Öffnung, Einlass und Aufnahme gepolt. Appetitlosigkeit bedeutet Essen gegen Widerstand, bedeutet auch, nur wenig durch ein angenehmes Geschmackserlebnis zum Weiteressen motiviert zu werden.
Somit symbolisieren Ü/E hier gewissermaßen das innere „Nein“ und die Ablehnung, die Betroffene der sozialen Ess-Situation gegenüber empfinden. Sie wollen nicht mit den anderen „am gemeinsamen Tisch sitzen“ und teilhaben, sie wollen in dieser Situation nichts von außen aufnehmen.
Gefragt, in welchen Situationen sich die Betroffenen durch die spez. Symptomatik besonders eingeschränkt fühlen, werden erwartungsgemäß Feiern/Feste und Reisen angegeben. Die Einschränkungen werden im Bereich Freizeit, Freundschaften und Urlaub als deutlich gravierender benannt als im beruflichen Bereich.
Charakteristisch für Soziale Phobie ist die Befürchtung negativ – abwertender Reaktionen von anderen Menschen. Von daher wäre zu erwarten gewesen, dass die Angst vor Ü/E außerhalb von öffentlichen Situationen (fast) keine Rolle spielt.
Jedoch geben 48% der Befragten an, dass sie auch dann eine zumindest mäßige Angst vor Ü/E haben, wenn sie alleine sind, also keiner Fremdbewertung unterliegen.
Unter anderem dies macht die Einordnung des emetophobischen Symptoms schwierig, denn Emetophobie findet sich auch bei Menschen ohne Soziale Phobie als eigenständige Symptomatik. Es ist Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion, wie häufig und wie nahe Emetophobie und Soziale Phobie oder auch Agoraphobie mit einander verflochten sind.
III. Therapeutische Hilfen bei emetophober Symptomatik und Sozialer Phobie:
In unserer Umfrage bewerten die Betroffenen bei der Frage, wie hilfreich sie therapeutische Intervention bei Sozialer Phobie allgemein empfunden haben, die Verhaltenstherapie zu 65 % als mäßig hilfreich, andere Verfahren deutlich nachrangig.
Die Verwendung von Psychopharmaka wurden ebenfalls von 65 % als mäßig hilfreich eingestuft.
Hingegen gaben auf die Frage nach der Wirksamkeit speziell bei der emetophoben Symptomatik zwei Drittel der Befragten eine mäßige bis deutliche Besserung an durch Gesprächs-, tiefenpsychologische und psychoanalytische Therapieverfahren. Nur ein Drittel führt hier die Verhaltenstherapie als hilfreich an.
Für etwa 50% war die Einnahme von Psychopharmaka speziell bei der emetophoben Symptomatik mäßig erfolgreich.
Auf die Frage, was bei der Bewältigung der Angst vor Ü/E nicht geholfen oder sogar geschadet hat, nannten Betroffene: Druck und Konfrontation, Eigendruck und Eigenzwang, und an zweiter Stelle Alkohol – teilweise in Kombination mit Beruhigungsmitteln.
Es sei noch erwähnt, dass einige Betroffene durch eine - auch prophylaktische – Behandlung mit sog. Magenschutz-Arzneien, auch pflanzlicher oder homöopathischer Art, eine Symptomabschwächung und somit entlastende Defokussierung erreichen konnten.
IV. Heilsames Potential durch Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe (SHG)
Fragt man allgemein, wie positiv sich der Selbsthilfegruppenbesuch bei Sozialer Phobie auswirkt, so geben 25% der Befragten an, die Gruppe mäßig bis deutlich hilfreich zu empfinden. 50% haben keine Gruppenerfahrung.
Jedoch empfindet nur ein Sechsel der Betroffenen mit Angst vor Ü/E den Besuch einer Sozialphobie-Selbsthilfegruppe, bezogen auf diese spezielle Angst, als hilfreich.
Daraus entstand unser Anliegen, zusammen mit Betroffenen konstruktive Ansatzpunkte für eine Arbeit an emetophobischen Symptomen in einer Sozialphobie-Selbsthilfegruppe aufzuzeigen:
In der SHG besteht wünschenswerter Weise das Angebot und die Chance, sich in Bezug auf die sozialphobische Problematik angenommen und verstanden zu fühlen. Das kann auch eine erleichterte Basis schaffen, über die speziellen hier angesprochenen emetophobischen Befürchtungen zu reden und sich weiter auseinander zu setzen, ggf. durch Eingehen von Situationen mit einem Übungscharakter in Begleitung zusammen mit anderen Selbsthilfegruppenteilnehmern.
Für viele ist die SHG der erste Ort, um dieses oft sehr schambelastete Thema anzusprechen.
Im Folgenden stellen wir dar, welche Faktoren in einer SHG konkret von Sozialphobie-Selbsthilfegruppen-Mitgliedern mit Angst vor Ü/E als hilfreich empfunden wurden:
Aussprechen dürfen
- das Outing der Befürchtungen und Problematik des Betroffenen: sich endlich über diese Ängste aussprechen zu können
- die Chance, andere Sozialphobiker zu finden, die vergleichbare Befürchtungen in Bezug auf eine Essensteilnahme haben, deren Erfahrungen und Bewältigungsstrategien kennenzulernen
Üben können
- Durch z.B. mitgebrachte Kekse, die während der Gruppensitzung herumgereicht werden, kann zum einen geübt werden, etwas unter Menschen zu essen, was andere mitgebracht haben (auch wenn es nur kleine Mengen sind). Zum anderen können Betroffene sich gezielt überlegen, was sie gerne essen und davon etwas für alle zur Gruppensitzung mitbringen.
- Die Chance zu üben, in Begleitung von anderen z.B. in ein Restaurant zu gehen und erst mal (fast) ohne Verzehr am gemeinsamen Rahmen wieder teilzunehmen, zum Abbau der Schwelle und zum Erhalt eines sozialen Austauschs.
Lernziel ist zum einen, sich zunächst an den bisher gemiedenen Ort und die Situation wieder zu wagen. Zum anderen geht es darum, das Gefühl des Ausgeliefertseins schrittweise abzubauen, das für Betroffene mit sozialen Ess-Situationen verbunden ist. Dieses Gefühl kann sich z.B. festmachen an dem Eindruck, nicht nein sagen zu dürfen bei spontanen Ess-Einladungen oder nicht selbst bestimmen zu dürfen, was, wann und wie viel man isst.
Im geschützten Rahmen der Selbsthilfegruppe, kann hier schrittweise wieder ein Gefühl von Eigen-Kompetenz und Selbst-Steuerung aufgebaut werden.
- Betroffene können andere vertraute SHG-Mitglieder zu sich nach Hause einladen, um dort gemeinsam etwas zu essen. Dies fällt dem ein oder anderen vielleicht leichter als ein Restaurant-Besuch.
- Für Menschen, die schon unabhängig von einem Essens-Rahmen in sozialen Situationen unter Emetophobie leiden, stellt bereits die reine Teilnahme an einer Gemeinschaft wie der Selbsthilfegruppe eine konstruktive Übungssituation dar.
Selbstannahme und Akzeptanz
Neben allen Übungsmöglichkeiten wird von Betroffenen v.a. erwähnt, dass eine gute Gruppenatmosphäre entscheidend ist, um Ängste abbauen zu können. In einer Atmosphäre, in der es dem Betroffenen gelingt, von der Anspannung schrittweise loszulassen, kann er sich der Vorstellung nähern, auch mal etwas mitzuessen.
Eine gute Gruppenatmosphäre kann Betroffene ermutigen, erste Schritte auf eine Versöhnung mit dem Thema Essen in der Öffentlichkeit zu wagen. Wichtig ist, dass sie eine grundsätzliche Botschaft der Solidarität aus der Gruppe erreicht, da sie häufig durch ihre Angst vor Ü/E sich selbst in einer Außenseiterposition sehen. Selbst, wenn sich sonst keine Gruppenmitglieder mit dieser speziellen Angst finden, so kann die Gruppe Betroffenen helfen: Sie kann ihnen signalisieren, dass sie sie annimmt mit ihrer Angst, ohne aber z.B. durch übertriebene Rücksichtnahme ihre Ängste zu verstärken. Sie kann ihnen einen unbefangeneren Umgang mit dem Essen vorleben und auch eine Akzeptanz der Thematik und Problematik.
Dadurch kann bei den Betroffenen zunehmend und schrittweise der Wunsch geweckt werden, wieder sich zu beteiligen am gemeinsamen Sich-Nähren.
Dieser Text wurde in der Deutschen Angst-Zeitschrift Nr. 54 in einer leicht gekürzten Form veröffentlicht.